Straße bauen und Jahrzehnte später Erschließungsbeiträge verlangen: Ist das verfassungsgemäß?
Auf manch einem Grundstück tickt eine finanzielle Zeitbombe – nicht selten, ohne dass der Eigentümer davon weiß. Denn in vielen Bundesländern können die Kommunen die Erschließungsbeiträge für den erstmaligen Anschluss des Grundstücks an Staßen- und Versorgungsnetz auch Jahrzehnte später noch eintreiben. Ob das wirklich rechtens ist? Das Bundesverfassungsgericht hat das jetzt geklärt.
Karlsruhe. Ein Bundesland darf seinen Kommunen nicht erlauben, Erschließungsbeiträge mit unbegrenzter Verspätung auch noch Jahrzehnte nach der Erschließung von den Grundeigentümern einzutreiben. Das verstößt gegen das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit und ist daher nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Das hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) jetzt entschieden (Beschluss vom 03.11.2021, Az.: 1 BvL 1/19).
Um die Klärung dieser Frage hatte das Bundesverwaltungsgericht die Verfassungsrichter gebeten. Das oberste Verwaltungsgericht der Republik verhandelt nämlich den Fall eines Grundeigentümers aus Rheinland-Pfalz, der gegen einen Erschließungsbeitrag in Höhe von mehr als 70.000 Euro kämpft. Die Straße zu seinen Grundstücken war 1986 gebaut worden. Erst 2007 wurde die Straße in ganzer Länge fertiggestellt und offiziell dem öffentlichen Verkehr gewidmet.
Kommune verlangt Erschließungsbeitrag 25 Jahre nach Straßenbau
Im Jahr 2011 flatterte dem Eigentümer dann der Gebührenbescheid über die Erschließungsbeiträge ins Haus. Der Grundeigentümer findet es nicht gerechtfertigt, dass er 25 Jahre nach der Erschließung auf einmal noch für die Kosten der Maßnahme aufkommen soll. Deswegen zog er gegen den Bescheid vor Gericht. Allerdings ist die Rechtslage zur Erhebung von Erschließungsbeiträgen in Rheinland-Pfalz sehr offen gestaltet.
Das Kommunalabgabengesetz des Landes sieht nämlich vor, dass die Kommune die Erschließungsbeiträge innerhalb von vier Jahren erheben muss – sonst verjährt die Zahlungspflicht des Grundeigentümers. Allerdings beginnt diese Verjährungsfrist nach dem Gesetz erst zu laufen, wenn die Straße offiziell gewidmet wird. Es ist allerdings gar nicht ungewöhnlich, dass eine neue Straße erst nach Jahrzehnten gewidmet wird – dafür gibt es keinen festen Zeitrahmen.
Erschließungsbeiträge: Regelung in Rheinland-Pfalz verfassungswidrig
Genau deswegen erklärte das Bundesverfassungsgericht die Regelung des rheinland-pfälzischen Kommunalabgabengesetzes jetzt für verfassungswidrig. Die Grundeigentümer dürften nicht darüber im Unklaren gelassen werden, ob und wann sie mit einer finanziellen Belastung konfrontiert werden. Das Gebot der Belastungsklarheit und Belastungsvorhersehbarkeit ist in einem Rechtsstaat zu wahren, wie Karlsruhe feststellte. Die Verjährungsfrist müsse daher mit dem Zeitpunkt beginnen, zu dem der Vorteil für den Grundeigentümer entsteht – also der Fertigstellung der Straße.
In der Tat können Eigentümer von solchen Gebührenbescheiden böse überrascht werden: Kommt der Bescheid erst nach Jahrzehnten, hat das Grundstück womöglich schon längst einen neuen Eigentümer. Der wird in der Regel nicht wissen, dass für das Grundstück noch nie ein Erschließungsbeitrag gezahlt wurde. Zugleich kann die Höhe des Beitrags existenzbedrohend sein. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist insofern sehr bedeutsam für Eigentümer.
Verfassungswidrige Regelung ab sofort gekippt
Das Urteil ist nicht nur für Eigentümer in Rheinland-Pfalz relevant. Zwar haben Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Brandenburg ihren Kommunen bereits klare Fristen für die Erhebung der Erschließungsbeiträge gesetzt. Diese rangieren zwischen 10 und 20 Jahren und sind damit auch noch ziemlich lang. In den anderen Bundesländern – darunter auch NRW – gibt es allerdings bisher noch keine klare Regelung.
Auch dort sollte sich der Gesetzgeber jetzt Gedanken über eine solche Regelung machen. Rheinland-Pfalz hat vom Bundesverfassungsgericht die Aufgabe bekommen, bis Ende Juli 2022 eine neue Regelung zu treffen. Eine Vorgabe für die Höhe einer zeitlichen Begrenzung machten die Verfassungsrichter aber nicht. Die bis zur Gesetzesänderung noch gültige, aber verfassungswidrige Regel dürfen Kommunen und Gerichte bis dahin allerdings nicht mehr anwenden. Eigentümer mit noch nicht bestandskräftigen Bescheiden können sich also freuen.
Dieser redaktionelle Beitrag wurde von Haus & Grund Rheinland Westfalen verfasst.
Hinweis: Entscheidungen der Rechtsprechung sind sehr komplex. Eigene juristische Bewertungen ohne fachkundige Kenntnis sind nicht empfehlenswert. Ob dieses Urteil auch auf Ihren Sachverhalt Anwendung findet, kann Ihnen als Mitglied daher nur ein Rechtsberater in einem Haus & Grund – Ortsverein erklären.